ME Saar aktuell

Appell für mehr Marktwirtschaft

Bei der Jahreshauptversammlung zum 40-jährigen Jubiläum des Verbands der Eisen- und Metallindustrie des Saarlandes (heute ME Saar) im August 1988 hat der FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff unter dem Titel „Rechte und Pflichten der Tarifvertragspartner" eine Rede gehalten, die in vielen Teilen auch heute noch aktuell ist. Hier können Sie die Rede im Wortlaut lesen.

Für die diesjährige Jahreshauptversammlung ist ein Thema ausgewählt worden, in dessen Mittelpunkt die Tarifvertragsparteien stehen. Ich begrüße dies sehr – gerade auch vor dem Hintergrund der in jüngster Zeit in Vergessenheit geratenen grundlegenden Rollen- und Aufgabenzuweisung von Tarifpolitik, Geldpolitik und staatlicher Wirtschaftspolitik:

- Geldpolitik muss primär dem Ziel der Preisniveaustabilität verpflichtet sein,

- staatliche Wirtschaftspolitik, insbesondere Finanz-, Steuer- und Strukturpolitik, hat für gute Rahmenbedingungen (und für Wirtschaftswachstum) zu sorgen,

- Tarifpolitik bestimmt maßgeblich die Höhe der Beschäftigung, insofern liegt hier der Schlüssel zum Abbau der Arbeitslosigkeit.

Natürlich gibt es gegenseitige Beeinflussungen zwischen diesen Politikbereichen.

Eine die Leistungsanreize und Investitionen stimulierende Wirtschaftspolitik erleichtert die Beschäftigungsprobleme. Ebenso wird eine stetige Geldversorgung die Wachstumsentwicklung und damit indirekt die Schaffung von Arbeitsplätzen begünstigen.

Aber die grundlegende Rollenzuweisung kann damit nicht überspielt werden. So war und ist es eine gefährliche Illusion der SPD zu glauben, der Staat könne Vollbeschäftigung herbeiführen oder gar garantieren. Trotz einer Flut staatlicher Ausgabenprogramme in den 70er Jahren hat man das Beschäftigungsproblem nicht in den Griff bekommen – im Gegenteil, die Arbeitslosigkeit wuchs rapide. Deshalb ist es völlig unverständlich, ja sogar unverantwortlich, wenn SPD und DGB immer noch ihre alten Ladenhüter als Patentlösung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit anpreisen.

Das heißt nicht, dass der Staat keine Verantwortung für den Abbau der Arbeitslosigkeit hat. Soweit durch ein investitions- und wachstumsfreundlicheres Steuerrecht, eine die Beschäftigung fördernde Arbeits- und Sozialgesetzgebung und einen weitreicher, den Abbau bestehender gesetzlicher Regulierungen auf einzelnen Märkten die Chancen für mehr Arbeitsplätze erhöht werden, bleibt der Staat weiterhin gefordert.

Mein Drängen, dass hier mehr geschehen muss, ist bekannt. Besonders deutlich wird dies bei der vergleichsweise noch wenig bekannten Politik der Deregulierung. Rund die Hälfte unserer Märkte (so eine Schätzung der Monopolkommission) unterliegt heute staatlichen Regulierungen z.B. beim Eintritt in diese Märkte, bei der Preisgestaltung, aber auch beim Austritt aus einzelnen Märkten.

Ein sehr unfreundlicher Befund.

Die damit verbundenen Wachstums- und Beschäftigungsverluste können wir uns nicht länger leisten. Der Staat kann und muss die Chancen für mehr rentable Investitionen und Arbeitsplätze erhöhen. Die Hauptverantwortung für die Beschäftigung hingegen tragen – allein schon von der Größenordnung der Lohnsumme her – die Tarifpartner. Dies sollte keinesfalls nur als lästige Pflicht angesehen werden, sondern auch als wichtiges Recht der von mir stets begrüßten Tarifautonomie.

Staatliche Bevormundung durch Lohnleitlinien oder sonstige einkommenspolitische Vorgaben wären nicht nur ein massiver Eingriff in die Freiheitsrechte. Sie würden auch die in einer Demokratie wichtige Balance zwischen Staat und Tarifvertragsparteien empfindlich stören. Im Übrigen haben staatliche Lohnleitlinien in keinem Land dieser Welt funktioniert.

Die Marktwirtschaft gehorcht einfachen, zwingenden Regeln. Angebot und Nachfrage werden auf tausenden von Märkten durch die Preise ausgeglichen. Sind die festgesetzten oder ausgehandelten Preise zu hoch, entsteht ein Überangebot – im Falle des Arbeitsmarktes Arbeitslosigkeit. (Über eine expansive Geldpolitik können zwar steigende Lohnkosten in die Preise weitergegeben werden. Aber weltweit haben wir die ernüchternde Erfahrung machen müssen: Mit einem "bisschen mehr Inflation" erhält man nicht mehr Beschäftigung, sondern weniger.) Diese ökonomischen Gesetzmäßigkeiten mag man beklagen, entziehen kann sich ihnen niemand.

Wie auch immer man es dreht und wendet: Der reguläre Preis für Arbeit, der Lohn, ist bei uns in vielen Fällen zu hoch. Arbeit ist genügend da – die Schwarzarbeit ist dafür ein beredtes Beispiel – aber eben nicht immer zum bisherigen Lohn, im bisher erlernten Beruf, am bisherigen Wohnort.

Den Tarifvertragsparteien ist es bisher nicht gelungen, eine Lohnformel zu finden, die zu Vollbeschäftigung zurückführt. Dabei war die Entwicklung Anfang der 80er Jahre durchaus erfolgversprechend: Rückbesinnung auf eine marktwirtschaftliche Politik, moderate Lohnabschlüsse, ein beachtlicher Anstieg der Beschäftigung von inzwischen insgesamt über einer Dreiviertel-Million neuen Arbeitsplätzen, ein Anstieg der Nettoinvestitionen seit 1982 um immerhin 5 Prozent pro Jahr.

Der erhoffe Abbau der Arbeitslosigkeit blieb aber wegen der starken Neuzugänge am Arbeitsmarkt, insbesondere bei Jugendlichen und Frauen, aus, weil ein grundlegender Zusammenhang nicht ausreichend berücksichtigt wurde (vereinfacht ausgedrückt): Die Höhe der realen Löhne hätte deutlich unter dem Produktivitätszuwachs liegen müssen oder – so in jüngster Zeit vom Sachverständigenrat propagiert – die Lohnstückkosten hätten konstant bleiben sollen.

Ich hielte es durchaus für nachdenkenswert, dass in Phasen starker Unterbeschäftigung mögliche Lohnzuwächse primär an neu Einzustellende verteilt werden bzw. dass Personen ohne Arbeitsplatzrisiko vergleichsweise größere Zugeständnisse machen.

Es langt nicht – wie es die ÖTV gerade gemacht hat – 100.000 neue Arbeitsplätze einfach zu fordern. Man muss auch die Voraussetzungen dafür schaffen. Das wäre praktizierte, nicht nur verbale Solidarität.

Stattdessen haben die Lohnstückkosten, nachdem sie 1983 und 1984 nur jeweils 0,7 Prozent gestiegen waren, danach wieder deutlich angezogen (1985: 1,6 %, 1986: 2,3 %, 1987: 1,8 %).

Mein Plädoyer heißt nicht – auch wenn sich dies in Unternehmerkreisen großer Beliebtheit erfreut – „Löhne runter“. An einem gesamtwirtschaftlichen Nachfrageausfall könnte niemand ein Interesse haben. Vielmehr geht es bei den durchschnittlichen Lohnerhöhungen darum, viel stärker als bisher die Produktivitätsentwicklung bzw. die Auswirkungen auf die Lohnstückkosten zu berücksichtigen.

Die Diskussion über Arbeitszeitverkürzung mutet in diesem Zusammenhang oft wie eine Vogel-Strauß-Politik an. Wenn die Lohnstückkosten steigen, sind die Chancen für zusätzliche Arbeitsplätze beeinträchtigt. Dann ist es egal, ob die Kosten wegen regulärer Lohnerhöhungen, wegen erhöhter Lohnnebenkosten oder wegen einer ausgehandelten Arbeitszeitverkürzung (mit oder ohne teilweisen Lohnausgleich) gestiegen sind.

Wenn ich mir die rechnerischen Kostenbelastungen aus einzelnen Tarifverträgen über Arbeitszeitverkürzung ansehe, frage ich mich, wie man seinen Mitgliedern ernsthaft weismachen will, so die Arbeitslosigkeit abzubauen.

War dies der tiefere Grund für die heftigen Reaktionen auf den Lafontaine-Vorschlag?

Im letzten Gutachten der Arbeitsgemeinschaft wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute wird hierzu von der Mehrheit der Institute unmissverständlich festgestellt: „Auf Grund der Arbeitszeitverkürzungen und der Lohnerhöhungen ... ist der Anstieg der Stundenlöhne größer, als er es sein dürfte, sollen auf mittlere Sicht nicht die Beschäftigungschancen verschlechtert werden.“

Es hilft nichts, die Augen vor der jeweiligen gesamten Kostenbelastung der Arbeitsbelastung zu verschließen und stattdessen punktuell über einzelne Leistungen lang und breit zu diskutieren. Die Gesamtkosten für Arbeit sind entscheidend dafür, wie viele rentable Arbeitsplätze vorhanden sind bzw. wie viele zusätzlich geschaffen werden können. Wir müssen uns deshalb auch ernsthaft Gedanken machen, wie bei den Lohnnebenkosten eine Entlastung erreicht werden kann.

Staat und Tarifpartner sind hier gleichermaßen gefordert, denn rund die Hälfte aller Lohnnebenkosten sind von Tarifvertragsparteien vereinbart worden. Andererseits sind tragfähige Konzepte bei der Reform der Krankenversicherung und der Rentenreform so wichtig, um keine unzumutbaren weiteren Belastungen für die Arbeitsplätze herbeizuführen. Auch deshalb ist eine Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung nicht akzeptabel.

Probleme löst man nicht dadurch, dass man weniger arbeitet. Vielmehr müssen wir wieder die Ärmel aufkrempeln, uns anstrengen, neue Ideen entwickeln und offen sein für neue Vorstellungen. Die Zahlen des internationalen Vergleichs sprechen eine eindeutige Sprache hinsichtlich des Themas Arbeitszeitverkürzung: effektive Jahresarbeitszeit je Erwerbstätigen (im verarbeitenden Gewerbe 1985) Japan 2.148 Stunden, Großbritannien 1.944, Schweiz 1.826, USA 1918, Deutschland 1.640 Stunden. Berücksichtigt man zusätzlich, wie erforderlich, die unterschiedlichen Fehlzeiten, ist die Spanne noch erheblich größer (gefehlte Stunden je Arbeitnehmer 1986 in Deutschland 132, USA 62, Japan 34).

Das Thema Arbeitszeitverkürzung ist aber noch viel vielschichtiger als zunächst vermutet. 60 Prozent der Arbeitslosen in der Bundesrepublik sind ohne berufliche Qualifikation. Wenn ein Facharbeiter oder ein Meister weniger arbeitet, kann doch nicht ein unqualifizierter dafür einspringen. Im Gegenteil! Die Mehrarbeit unqualifizierter Arbeiter setzt voraus, dass gleichzeitig genügend qualifizierte Arbeit vorhanden ist. Und genau da liegt doch schon heute der Engpass.

Gleiches gilt für die Mobilität. Bei den bekannten Mobilitätshemmnissen würde Arbeitszeitverkürzung auch aus diesem Grund nicht erfolgreich sein. Wenn in Süddeutschland der Arbeitsmarkt teilweise schon leergefegt ist, in einzelnen Städten im Norden Deutschlands hingegen seit längerem hohe Arbeitslosigkeit herrscht, muss man sich ernsthaft mit der Frage Arbeits- und Wohnungsplatzwechsel auseinandersetzen.

Ich sehe dabei sehr wohl die menschlichen, aber auch finanziellen Probleme, die damit verbunden sein können. Wer sein Haus verkauft, findet oft nichts Vergleichbares in einer anderen Stadt. Jedenfalls muss er für ein Einfamilienhaus in Stuttgart deutlich mehr zahlen als in Wilhelmshaven. Deswegen sind auch die Mieten im Norden niedriger.

Kann sich nicht wenigstens dieser Unterschied in den Tarifeinkommen niederschlagen? Mir erscheint es durchaus erwägenswert, in stark von Arbeitslosigkeit betroffenen Gebieten niedrigere Löhne zu vereinbaren.

Lassen Sie mich klarstellend eines sagen: Wenn die Tarifvertragspartner übereinkommen, Produktivitätszuwächse primär für mehr Freizeit, statt für mehr Einkommen zu verwenden, ist dies ihre autonome Entscheidung – auch wenn es in der jetzigen konjunkturellen Phase eine Reihe von guten Gründen gibt, die dafürsprechen, die Produktivitätszuwächse lieber für mehr Einkommen zu verwenden.

Wogegen ich mich wende, ist dieses Sand-in-die-Augenstreuen, durch Arbeitszeitverkürzung könne die Arbeitslosigkeit nachhaltig abgebaut werden. Noch so schöne Rechnungen der IG Metall über die angeblich Tausende von Arbeitsplätzen schaffende Arbeitszeitverkürzungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass steigende Lohnstückkosten das Gegenteil bewirken.

Das Thema Arbeitszeitverkürzung muss schließlich noch in einem viel weiterreichenden Zusammenhang gesehen werden. Heute finanzieren überschlägig jeweils hundert Beitragszahler die Rente von über 50 Rentnern. Bereits in wenigen Jahren werden jeweils 100 Beitragszahler die Rente von über 100 Rentnern erwirtschaften müssen.

Die Hoffnung, auch auf Arbeitgeberseite, der Staat werde diese Finanzierungslücke schließen können, hieße die Augen vor den Tatsachen verschließen. Nach meiner festen Auffassung werden wir nicht umhinkommen, bereits in wenigen Jahren wieder länger zu arbeiten. Wie sonst sollen die Probleme der Rentenversicherung gelöst werden?

Nicht minder wichtig, vielleicht sogar noch wichtiger als die absolute Höhe der Löhne ist die Lohnstruktur für die Lösung der Beschäftigungsprobleme. Auch hier tragen die Tarifpartner – beide wohlgemerkt – große Verantwortung.

Diese Verantwortung misst sich nicht an den schönen und richtigen Reden zu diesem Thema, sondern an den tatsächlichen Tarifabschlüssen.

Es ist eben ein grundlegender Unterschied, ob ein vergleichsweise hoher Lohn in Leer oder in Sindelfingen bezahlt werden muss – oder derselbe Tariflohn für eine vergleichbare Tätigkeit in einer angeschlagenen Werft oder bei einem prosperierenden Autounternehmen. Wesentlich stärker differenzierte Löhne nach Branchen, Regionen und Qualifikationen sind eine conditio sine qua non für einen nachhaltigen Abbau der Arbeitslosigkeit.

Es hilft auch wenig. wenn Ulf Fink von den Sozialausschüssen oder die Gewerkschaften in einer jüngst vorgelegten Studie meinen, die Lohnstruktur sei in der Bundesrepublik sehr differenziert – immerhin läge der Durchschnittslohn im bestbezahlten Wirtschaftszweig 92 Prozent über demjenigen der Branche, die am schlechtesten bezahlt. Solche Vergleiche sind schlicht und ergreifend irreführend.

Entscheidend und aussagefähig ist einzig und allein das Verhältnis von Löhnen bzw. Kosten zu den jeweiligen Erlösen der hergestellten Produkte. Wenn die Löhne im Vergleich zum hergestellten Produkt zu teuer sind, ist Arbeitslosigkeit die Folge. Löhne und Sozialleistungen, die gestern noch richtig waren, können dabei über Nacht falsch werden, wenn auf dem Weltmarkt plötzlich billiger anbietende Länder auftreten, die Energiekosten explodieren, wie wir es erleben mussten, neue billigere Produktionsverfahren entwickelt wurden oder wie im Falle des Stahls die Weltnachfrage plötzlich zurückgeht

Auch hier gilt: Vergleichsmaßstab können nicht die vorher einmal verdienten Löhne sein, sondern ausschließlich das Verhältnis zwischen Löhnen und Kosten bzw. Erträgen der verkauften Produkte.

Für die Betroffenen sind die daraus resultierenden Anpassungsprozesse zweifelsohne sehr schmerzlich. Soziale Flankierung ist deshalb in gravierenden Fällen in unserer sozialen Marktwirtschaft richtig,

Aber eine solche Flankierung kann immer nur für einen begrenzten Zeitraum gewährt werden. Keine Wirtschaft kann sich auf Dauer gegen die Marktkräfte subventionierte Löhne erlauben.

Dies gerät leider immer wieder in Vergessenheit. Die mangelhafte Differenzierung der Löhne hat sich besonders fatal bei der Sockelpolitik der Tarifpartner ausgewirkt Die tariflichen Löhne für einfache bzw. nicht qualifizierte Arbeit sind häufig zu hoch.

Der Anstieg der Lohnkosten hat in vielen Fällen dazu geführt, dass Arbeitsplätze für Menschen durch Maschinen ersetzt wurden. Gerade einfache Tätigkeiten lassen sich bekanntlich leicht rationalisieren. Ist eine Maschine erst einmal angeschafft, wird eine solche Entscheidung nicht mehr schnell revidiert.

Die Annahme, man könne gegen die Gesetze des Marktes höhere Löhne erzwingen, war ein folgenschwerer Irrtum. Was als soziale Politik gemeint war, wurde zum Nachteil der zu Begünstigenden, wie die hohe Zahl der nicht qualifizierten Arbeitslosen von einer Million Menschen zeigt.

Es führt kein Weg an der Einsicht vorbei: Tarif- und Lohnpolitik müssen sich an den Gesetzen des Marktes orientieren, sozialer Ausgleich hingegen kann allein über die staatliche Sozialpolitik erfolgen.

Das "Unsoziale des sozial Gemeinten" ist ein altes Problem. Je enger man das soziale Netz für diejenigen knüpft, die „drin“ sind und Arbeit haben, umso schwieriger wird es für diejenigen, die „rein“ wollen und Arbeit suchen. Ein Paradebeispiel sind hierfür die sozialen Schutzrechte für einzelne sozial schutzwürdige Gruppen, wie z.B. Schwerbehinderte oder Frauen. Es gibt keinen sozialen Schutz zum Nulltarif. Jeder soziale Schutz erhöht die Kosten für die geschützten Gruppen. lm Verhältnis zu den anderen Lohnempfängern wird ihre Arbeit teuer, und ihre Chancen, einen Arbeitsplatz zu finden, sinken. Wer über diese Zusammenhänge spricht. wird oft verdächtigt, unsozial zu sein.

Ich will dazu nur so viel sagen: Unsozial handelt in meinen Augen, wer die Rechte derjenigen, die die in Brot und Arbeit sind, als unantastbar hinstellt und sogar noch mehr fordert. Die Chancen der Arbeitslosen, überhaupt einen Arbeitsplatz zu finden, werden damit erschwert. Was hilft es einer jungen Frau oder einem Schwerbehinderten, wenn vorzügliche Schutzregelung bestehen, sie aber wegen dieser kostenerhöhenden Regelungen keine Arbeit finden?

Sozial in einem weitesten Sinne heißt für mich aber auch – lassen Sie mich das an dieser Stelle genauso offen sagen – dass die Unternehmer die Chancen für mehr Investitionen nutzen und auf diesem Weg mehr Arbeitsplätze schaffen. Das Wachstum der Nettoinvestitionen von fünf Prozent pro Jahr seit 1982 ist durchaus beachtlich.

Andererseits zeigen die hohen Anlagen in Wertpapieren und vor allem in Forderungen im Ausland, dass hier noch deutlich mehr geschehen kann, wenngleich ich die Gründe für dieses Verhalten sehe.

Der Weg über mehr Investitionen ist und bleibt der Königsweg zum Abbau der Arbeitslosigkeit.

Je flexibler und differenzierter Lohn- und Sozialpolitik reagieren, desto mehr Investitionen und rentable Arbeitsplätze können geschaffen werden. Hieran sollten beide Tarifpartner ein gemeinsames Interesse haben.

Betroffen machen mich mitunter die Starrheit und Verkrustung der Positionen – und dies keinesfalls nur bei den Gewerkschaften. Soziale Besitzstände scheinen geradezu sakrosankt geworden zu sein.

Was wir brauchen, ist ein grundlegender Bewusstseinswandel. Praktizierte Solidarität heißt für mich, die Chancen für mehr Beschäftigung und den Abbau der Arbeitslosigkeit nachhaltig zu verbessern und nicht von vornherein schon jeden möglichen Ansatz zu verhindern.

Manchmal hat man den Eindruck, als wären die zahllosen Arbeitsmarktregelungen auf ewig geschaffen. Aber es ist eben ein grundlegender Unterschied, ob Schutzrechte und vielfältige Vergünstigungen in Zeiten der Vollbeschäftigung vereinbart wurden, oder ob sie in einer Phase mit über zwei Millionen arbeitslosen Menschen den Abbau der Arbeitslosigkeit behindern.

Wäre es zum Beispiel nicht möglich und sinnvoll, bestimmte Schutzrechte etwas abzusenken, solange hohe Arbeitslosigkeit besteht.

Das Beschäftigungsförderungsgesetz ist hier ein Schritt in die richtige Richtung, aber er muss konsequent weiterentwickelt werden. Zur Lösung der Probleme bedarf es noch viel mehr Phantasie und Engagement als bisher eingebracht wurden.

Hier sind primär die Tarifvertragspartner gefordert, denn sie wissen am besten, wo der Schuh drückt und weshalb eigentlich erforderliche Einstellungen unterbleiben. Gerade in Gesprächen mit Betriebsräten wird dies immer wieder deutlich.

Die Maxime sollte sein:

Jede Maßnahme, die zusätzlich Arbeitslose in Brot und Arbeit bringen könnte, sollte frei von Emotionen und jahrelang verteidigten Tabus geprüft und erprobt werden. An möglichen Ansatzpunkten besteht kein Mangel.

Ich erwähne beispielsweise nur:

  • Erleichterungen der Einstellung und Entlassung von Arbeitnehmern (Stichworte: zu hohe Sozialpläne, zu hohe Kosten und Risiken bei Arbeitsprozessen, Auflockerung der Kündigungsvorschriften, den Betriebsübergang erschwerende Rechte und Pflichten nach § 613a BGB)
  • Überprüfung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen (zum Beispiel Ausnahmeregelungen für vom Konkurs bedrohte Unternehmen?)
  • Nachhaltige Auflockerung des Vermittlungsmomopols der Bundesagentur für Arbeit – am besten seine Abschaffung
  • Qualifizierungsoffensive der Arbeitgeber (schließlich hat dies in Zeiten des Arbeitskräftemangels mit vielen ausländischen Arbeitern vor wenigen Jahren sehr gut funktioniert)
  • stärker gewinnorientierte und betriebsbezogene Lohnpolitik; denkbar wäre zum Beispiel eine Kombination aus Grundlohn und ertragsabhängigem Lohn.
  • bessere Abstimmung zwischen Arbeitsangebot und -nachfrage bei Teilzeitarbeit
  • mehr Flexibilität bei den Maschinenlaufzeiten, die zum Beispiel in den USA wesentlich höher sind als bei uns in Deutschland
  • vergleichsweise deutlich niedrige Lohnabschlüsse in Branchen, in denen hohe Subventionen gezahlt werden
  • Überprüfung, welche Arbeit an welchem Ort zumutbar sein soll, sofern jemand schon längere Zeit arbeitslos ist– bis hin zur Frage, wie eine stärkere Entzerrung der besonders bei niedrigen Einkommen wichtigen Spanne zwischen Nettolohn und Sozialhilfe erreicht werden kann.

Wie gesagt, all dies sind Beispiele für mögliche Ansätze. Denken Sie bei der Arbeitsmarktproblematik aber nicht nur an den arbeitslosen Familienvater, sondern auch an die vielen arbeitssuchenden Frauen, die es auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor schwerer haben als ihre männlichen Konkurrenten. Die Einstellungspolitik vieler Arbeitgeber wird heute immer noch von überholten Rollenmustern geprägt. Das ist unökonomisch.

Wir brauchen qualifizierte Frauen für unsere wirtschaftliche Entwicklung. Bei dem sich abzeichnenden Fachkräftemangel, der bis zur Jahrtausendwende auch auf den höheren Managementebenen deutliche Lücken reißen wird, können wir es uns nicht leisten, das vorhandene weibliche Potential brachliegen zu lassen. Dies wäre Ressourcenverschwendung.  Der Weg in die moderne, gleichberechtigte Leistungsgesellschaft kann nur mit den Frauen beschritten werden – zur Wohlstandsmehrung aller. Deshalb wünsche ich mir, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften ihre verkrusteten Denkstrukturen über Bord werfen und unser Voranschreiten auf diesem Weg mit neuen, klugen Ideen unterstützen.

Dabei gibt es zwei wichtige Ansätze: Der eine ist der Abbau von Verhaltensweisen in den Unternehmen, die Frauenerwerbstätigkeit behindern. Der zweite wichtige Ansatz ist die Flexibilisierung der Arbeitszeit. Wenn wir unser Ziel der Vereinbarkeit von Beruf und Familie verwirklichen wollen, muss hier mehr geschehen. Heute wünschen sich rund 2,5 Millionen Vollzeitbeschäftigte einen Teilzeitarbeitsplatz – und das sind nicht nur Frauen. ·

Die Beseitigung dieser Flexibilitätsdefizite muss schnellstens in Angriff genommen werden. Hier besteht die große Chance, mehr Menschen zu beschäftigen und gleichzeitig zufriedenere und damit auch produktivere Arbeitnehmer zu erhalten. Nicht zuletzt sind solche Änderungen ein Schritt hin zu einer familienfreundlicheren Gesellschaft. Denn Arbeitslosigkeit wie Unzufriedenheit mit dem Status Quo als vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer oder als Hausfrau sind familienfeindlich.

Letztlich muss es immer wieder darum gehen, wie mehr rentable Arbeitsplätze geschaffen und bestehende sicher gemacht werden können. Diese Ansätze und Überlegungen gehen weit über den konventionellen Rahmen des bisher als durchsetzbar Angesehenen hinaus. Wer solche Vorschläge macht, setzt sich den Vorwürfen der "sozialen Kälte" aus.

In der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner sind solche, wenn auch falsche Vorwürfe gefährlich. Ein staatliches Programm, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen oder generell mehr Arbeitsplätze zu fordern, das klingt schöner und sozialer. Das weiß ich auch. Aber für die Probleme der arbeitslosen Menschen ist damit nichts erreicht.

Haben wir denn nichts aus den letzten Jahren gelernt? Die schönen Sonntags-Reden zum Abbau der Arbeitslosigkeit kennen wir alle. Aber nur wenige haben den Mut zu sagen, welche einschneidenden Maßnahmen wirklich ergriffen werden müssen, um hier Erfolg zu haben.

Ich nehme das Thema Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ernst, sehr ernst sogar. Hier geht es nicht nur um materielle Werte und Einkommenschancen, sondern vor allem um Fragen des Selbstwertgefühls des einzelnen und der Humanität in unserer Gesellschaft. Die oft beschworene Solidarität misst sich vor allem daran, ob es zu einem fairen und gerechten Ausgleich kommt zwischen denjenigen, die einen Arbeitsplatz haben, und den anderen, die einen suchen.

Ich weiß, dass diese Vorschläge und Überlegungen hart klingen. Aber ich trete für diese Politik ein, weil ich überzeugt bin, dass dies der einzige Weg ist, die Arbeitslosigkeit nachhaltig abzubauen. Maßstab für eine soziale Politik sollte nicht sein, was sozial klingt, sondern was sozial ist.

Flexibilität heißt für mich gerade auch, Ansätze und Ideen überhaupt einmal ausprobieren und sie nicht schon von vornherein zum Tabu zu erklären. Einfach so fortfahren wie bisher und zu hoffen, der Pillenknick werde in einigen Jahren das Problem der Arbeitslosigkeit beseitigen, das ist keine akzeptable Lösung, sondern Resignation. Insofern begrüße ich, dass in jüngster Zeit auch bei Gewerkschaften Überlegungen in Richtung einer stärkeren Flexibilität angestellt wurden.

Erstaunlich finde ich, wie ruhig es inzwischen in der öffentlichen Diskussion über das amerikanische Beschäftigungswunder geworden ist. Amerika hat in den letzten 15 Jahren 30 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, fast drei Millionen allein im Jahre 1987, während Europa nach wie vor unter Millionen Arbeitslosen leidet. Die Erfahrungen und Lehren dieses Beschäftigungswunders sind nach wie vor gültig. Ohne Zweifel gibt es hierbei viele Unterschiede zwischen USA und Europa.

Es geht auch nicht darum, das amerikanische System des "hire and fire" übertragen zu wollen. Aber mit einem Tatbestand müssen auch wir uns ernsthaft auseinandersetzen, und es wäre töricht, davor die Augen zu verschließen: Die Reallöhne sind in den USA wesentlich schwächer gestiegen (mitunter sogar gesunken) als in Europa und der jeweiligen Situation ökonomisch bedrängter Branchen und Unternehmen wurde offensichtlich – auch von Seiten der Gewerkschaften – viel stärker Rechnung getragen als bei uns. Pan Am und General Motors, wo sogar Lohnkürzungen hingenommen wurden, waren keineswegs nur Einzelfälle.

Für mich steht eines außer Frage: Wenn die Tarifvertragspartner die jeweiligen wirtschaftlichen Gegebenheiten in ihren Tarifverhandlungen nicht wesentlich stärker berücksichtigen als bisher, werden wir in der Bundesrepublik das Problem der Arbeitslosigkeit nicht befriedigend und schnell lösen können.

Gerade auch die Löhne müssen stärker nach marktwirtschaftlichen Bedingungen, das heißt entsprechend den jeweiligen Knappheitsverhältnissen, ausgehandelt werden. Die mangelnden Erfolge beim Abbau der Arbeitslosigkeit haben wir nicht – wie SPD und Gewerkschaften uns weismachen wollen –, weil die Marktwirtschaft nicht funktioniert und angeblich kein Zusammenhang zwischen Löhnen und Beschäftigung besteht. Im Gegenteil. Diese Probleme bestehen, weil wir in diesem Bereich nicht genügend Marktwirtschaft haben.

Die bestehenden Verkrustungen des Lohnkartells müssen aufgebrochen werden – auf beiden Seiten. Im Gegensatz zu vielen anderen bin ich durchaus optimistisch, was die Lösbarkeit der Beschäftigungsprobleme angeht. Was geschehen müsste, steht für mich außer Frage.

Die tieferliegenden Probleme – und da bin ich leider auch skeptisch – liegen in den bekannten etablierten Interessengegensätzen, die bisher einer stärkeren Rückorientierung zur Marktwirtschaft in der Lohnpolitik, aber auch generell in der Wirtschaftspolitik entgegengestanden haben.

Die Erfolge des bisher eingeschlagenen Weges haben aber eindeutig gezeigt, in welche Richtung wir weitergehen müssen. Deshalb erscheint es mir so wichtig, für mehr Flexibilität zu werben. Die Löhne müssen wieder ihre Lenkungsfunktion bekommen, damit es sich wieder lohnt, mehr und besser zu arbeiten.

Was uns zum Thema erforderliche Differenzierung der Löhne internationale Organisationen ins Stammbuch geschrieben haben, sollte uns wachrütteln. Dies gilt für die von der EG vorgeschlagene kooperative Strategie für ein beschäftigungswirksameres Wachstum genauso wie zum Beispiel die kritischen Ausführungen des Internationalen Währungsfonds.

Die Kritik ist immer die gleiche. Die Anpassungsfähigkeit der realen Löhne auf sich ändernde Arbeitsmarktbedingungen ist in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern zu niedrig. Die Differenzierung der Löhne wird als unzureichend bezeichnet. Hier hilft auch nicht der oft vorgebrachte Hinweis, dass der Anteil der Löhne am Volkseinkommen inzwischen wieder eine Höhe erreicht habe, wie zu früheren Zeiten der Vollbeschäftigung. Entscheidend ist, dass die Rentabilität des Kapitals trotz erzielter Verbesserung noch deutlich unter derjenigen liegt, die wir früher hatten.

Hier muss angesetzt werden – über die Löhne und über die staatliche Wirtschaftspolitik. Die Kritik an dem zu stark reglementierten und verkrusteten Arbeitsmarkt zieht sich wie ein roter Faden durch viele internationale und wissenschaftliche Studien, deren Verfasser nicht im Verdacht stehen, Interessenstandpunkte zu vertreten. Dass die staatliche Wirtschaftspolitik ihrerseits alles tun sollte, um Wachstum und Beschäftigung anzuregen, steht dabei auf einem anderen Blatt.

Ich wünsche mir – lassen Sie mich mit diesem Appell schließen –, dass die Tarifvertragsparteien wieder stärker von ihren Rechten und ihren Pflichten Gebrauch machen und damit auch ihrer gesamtwirtschaftlichen Verantwortung stärker Rechnung tragen.

Die Chancen für mehr Marktwirtschaft sollten nicht ungenutzt bleiben.

Otto Graf Lambsdorff, Foto: Bundesarchiv
Otto Graf Lambsdorff, Foto: Bundesarchiv